Marvin Augustyniak ist nervös, bevor er in den Flieger nach Neu-Dehli steigt. Nicht, weil der Mountainbiker Angst vor der Reise oder dem anstehenden Rennen hat, sondern wegen seines Flugtickets. Teamkollege Felix Fritzsch hatte die Flüge nach Indien gebucht und dabei den Nachnamen seines Kollegen Augustyniak falsch geschrieben. „Hoffentlich bekomme ich keine Probleme bei der Einreise“, denkt Augustyniak. Die Sorge ist unbegründet.
Er und Fritzsch fahren für die Bad Salzdetfurther Lizenz-Mannschaft Focus Rapiro Racing. Augustyniaks Stammverein ist Bike-Sport Bad Salzdetfurth. Sie wollen im Vorgebirge des Himalayas an einem außergewöhnlichen Wettkampf teilnehmen: dem Hero-MTB-Himalaya – einem Rennen in acht Etappen über 600 Kilometer und rund 16 000 Höhenmeter. Gestartet wird es in der nordindischen Stadt Shimla. Doch dort müssen die beiden nach der Landung in Neu-Dehli erst einmal hinkommen. Sie nehmen ein Taxi: 360 Kilometer, hunderte Serpentinen und durch Erdrutsche zerstörte Straßen liegen vor ihnen. Gut zwölf Stunden sind sie unterwegs. Augustyniak: „Allein die Taxi-Fahrt ist ein Abenteuer.“
Vorspiel
Der Marktplatz in Shimla ist voll von Menschen. Es ist laut. Volksfest-Atmosphäre. Einen Tag vor dem Rennen stellen sich die rund 90 Mountainbiker dem Publikum vor. Einer nach dem anderen muss auf die Bühne. Mit dabei sind internationale Top-Leute, wie der WM-Achte Andreas Seewald und der norwegische WM-Zehnte Ole Hem. Smartphones werden gezückt. Die Inder wollen Selfies mit den Fahrern machen.
Hero Cycles ist einer der weltweit größten Fahrradhersteller – und Namensgeber des Rennes. Das indische Unternehmen sponsert den Wettkampf. Es will den Einheimischen den Mountainbike-Sport näher bringen. Mittlerweile hat sich ein indisches MTB-Team gegründet, unterstützt von Hero Cycles. Zum Prolog vor dem Rennen gehört auch ein kleines Show-Fahren rund um den Marktplatz. „Nichts wildes“, sagt Marvin Augustyniak.
Im eigentlichen Rennen gibt es verschiedene Klassements: Die Bad Salzdetfurther starten im Zweier-Team-Wettbewerb. Also müssen sie die 600 Kilometer gemeinsam bewältigen, sind auf Gedeih und Verderb auf sich angewiesen.
1. Etappe: Shimla – Gadakufar (69 Kilometer, 1600 Höhenmeter)
Der Startschuss knallt. Es geht los, aber nicht gleich ins Gebirge. Abgase wabern durch die Luft, der Tross kämpft sich zunächst durch das Verkehrschaos der 170 000-Einwohner-Stadt Shimla. Dann ab ins Gelände und rauf auf 2200 Höhenmeter. Augustyniak und Fritzsch müssen aber vom Rad – ein Reifen ist platt. „Blöd, den ersten Plattfuß aller Starter zu haben und das nach ein paar Kilometern“, schimpft Augustyniak. Es dauert, bis der Schaden behoben ist. Die beiden sind erst einmal Letzte. Aber sie behalten die Nerven, fahren kontrolliert und rücken bis zur ersten Versorgungszone auf Platz zwei bei den Zweier-Teams vor. Nach einer Abfahrt übernehmen sie sogar die Führung. Bei einem weiteren Anstieg beginnt eine Kuh plötzlich an der Seite der Bad Salzdetfurther mitzurennen. Das Vieh ist die steilen Berge gewöhnt und bergauf ziemlich schnell. Fritzsch: „Die Kuh hängt uns gnadenlos ab.“
2. Etappe: Gadakufar – Shwad (95 km, 2700 hm)
Augustyniak und Fritzsch starten die zweite Etappe im Leader-Trikot; in den Shirts der Führenden. Die zwei finden schnell den Rhythmus und überwinden die ersten Berge. Der letzte Anstieg des Tages folgt: 40 Kilometer bergan über 1400 Höhenmeter. „Wir nehmen ihn kontrolliert in Angriff“, plant Fritzsch. Zunächst klappt alles reibungslos. Bei Kilometer 77 rechnen die beiden mit einer Versorgungszone, um Flüssigkeit und Kohlenhydrate aufzunehmen. Doch außer Wildnis ist da nichts. Das Helferteam hat die Station acht Kilometer weiter oben aufgebaut. Augustyniak und Fritzsch dehydrieren. Ausgepumpt und fluchend schleppen sie sich weiter, erreichen die Station, saugen Energy-Drinks weg und stopfen Bananen in sich hinein. Die letzten Kilometer werden zur Qual: totale Erschöpfung im Ziel. Aber nach wie vor Rang eins.
3. Etappe: Shwad – Gada Gushaini (72 km, 2000 hm)
Erst geht es auf eine fünf Kilometer lange, wilde Cross-Country-Runde, dann folgt ein Anstieg über 500 Höhenmeter. Die Abfahrt ist eine Tortur, denn die Wege sind schlecht. Kühe und Autos behindern die Mountainbiker. Beim nächsten Anstieg müssen Augustyniak und Fritzsch runter vom Rad: schieben. Erdrutsche haben die Trails zerstört. Ewig schlängelt sich die Strecke an einem Hang entlang bis zur Passhöhe auf 2800 Meter. Von da an geht es bergab ins Ziel. Das Rapiro-Racing-Team verteidigt das Leader-Trikot erneut. Durchatmen, Sportklamotten waschen, Bikes warten und dann die Füße hochlegen – morgen ist Ruhetag.
Ruhetag
Augustyniak und Fritzsch schlafen aus und lassen sich Zeit beim Frühstücken. Dann besuchen sie mit den anderen Fahrern eine Schule in Gada Gushaini. Sie lernen von den Kindern ein bisschen Hindi – und indische Volkstänze. „Radfahren ist einfacher“, meint Augustyniak.
4. Etappe: Gada Gushaini – Bagshed (77 km, 1750 hm)
Nach zwei Anstiegen über jeweils 500 Höhenmeter wursteln sich Augustyniak und Fritzsch durch einige Schaf- und Ziegenherden und überqueren den mit 3000 Höhenmetern höchsten Punkt des Rennens. Geier kreisen über das Duo. „Sucht euch andere Opfer“, brüllt Felix Fritzsch. Die Abfahrt wird ruppig, bis sie auf eine Asphaltstraße gelangen. Aber auch die ist nichts für schwache Nerven – wegen des Autoverkehrs. Durch eine erneute Reifenpanne werden die Bad Salzdetfurther vom zweitplatzierten Team eingeholt. Allerdings haben Augustyniak und Fritzsch mittlerweile einen großen Vorsprung in der Gesamtwertung. Ein Angriff auf sie lohnt sich kaum. „Waffenstillstand?“, fragt Fritzsch die Konkurrenten. Die Gegner nicken. „Lasst uns heute gemeinsam weiterfahren.“ Zeitgleich rollen beide Teams über die Ziellinie. Nach kurzem Abklatschen geht es in die Zeltstadt – Camp-Routine: essen, duschen, Bikes pflegen, Wäsche waschen, ausruhen. Anschließend gibt es Tee und Snacks, dann wieder Essen, weil das Kalorien-Defizit ausgeglichen werden will.
Übernachtung
Abends zwängen sich Augustyniak und Fritzsch jeweils in Ein-Mann-Zelte – wie alle übrigen Fahrer auch. Nachts ist es empfindlich kalt in den Bergen: vier Grad mit Schnee und Hagel inklusive. Tagsüber klettert das Thermometer oft auf 35 Grad. 150 Helfer sind dafür zuständig, dass die Zeltstadt und das Gepäck der Fahrer von Etappenziel zu Etappenziel gefahren werden. Die Crew baut nicht nur die Schlafunterkünfte auf, sondern auch Küchen-, Dusch- und Toilettenzelte. „An den skurrilsten Orten. Einmal ganz oben auf einem Berg, mitten im Nichts. Da ist nur unser Camp“, sagt Augustyniak. Um 6 Uhr am nächsten Morgen klingelt der Wecker. Die Bad Salzdetfurther spüren ihre Muskeln und Bänder. Es nützt aber nichts – sie müssen raus aus dem Schlafsack.
5. Etappe: Bagshed – Kamand (102 km, 2150 hm)
Frühstück ist um 6.30 Uhr. Bis 8.15 Uhr müssen alle ihre Sachen packen, weil Zelte und Taschen dann abtransportiert werden sollen – angeblich. Erst um 8.45 Uhr nehmen die Helfer das Gepäck entgegen, für 9 Uhr ist der Start angesetzt. Auch der verschiebt sich. „Die Uhren in Indien ticken anders. Aus zehn Minuten wird schnell eine halbe Stunde. Man muss seine deutsche Pünktlichkeit ablegen“, so Marvin Augustyniak.
Die ersten 45 Kilometer machen die Salzdetfurther mit anderen Konkurrenten Tempo. Die letzten 57 sind sie allein unterwegs. Der Gesamtsieg in der Team-Wertung ist Augustyniak und Fritzsch kaum mehr zu nehmen.
6. Etappe Kamand – Jatingri (55 km, 1700 hm)
Eine kurze Etappe. Der heftigste Anstieg geht über nur 500 Höhenmeter. Augustyniak und Fritzsch fahren auch in der Einzelwertung recht weit vorn mit. Die Route ist an diesem Tag fahrtechnisch langweilig, das Panorama dafür spektakulär: Die Mountainbiker schauen von der Strecke aus auf die angrenzenden Sechstausender. Ein erhabener Anblick. Bereits gegen Mittag ist das Ziel erreicht – das Dorf Jatingri. Es bleibt Zeit, Land und Leute kennenzulernen.
Ein Friseurbesuch
Das kann man gut beim Friseur – auch in Indien, denken sich Augustyniak und Fritzsch. „Einmal schneiden, rasieren und Kopfmassage, bitte.“ Zunächst werden die zwei im Salon kritisch-neugierig beäugt. „Die Einheimischen halten uns für ein schwules Pärchen“, raunt Felix Fritzsch. Dass sich zwei Deutsche die Haare schneiden lassen, spricht sich im Ort herum. Es wird voller beim Friseur – und lauter. Mit einer Mischung aus Englisch und Zeichensprache macht Fritzsch den Menschen klar, dass er und sein Teamkollege keineswegs homosexuell seien. Vielleicht hätte er es besser lassen sollen, denn plötzlich wendet sich das Blatt. Der Friseur und andere wollen die Bad Salzdetfurther verkuppeln. „Ich habe Angst, hier noch mit irgendeiner Schwester, Cousine oder sonstigen Verwandten verheiratet zu werden“, flüstert Felix Fritzsch von seinem Friseurstuhl aus grinsend zu Augustyniak rüber.
7. Etappe: Jatingri – Palampur (77 km, 1900 hm)
In der Nacht treibt sich ein Leopard im Camp herum. „Ich habe nichts gemerkt“, meint Fritzsch. Er und Augustyniak können als Führende die vorletzte Etappe entspannt angehen. Machen sie dann auch.
8. Etappe: Palampur – Dharamshala (56 km, 1800 hm)
Auch auf dem letzten Teilstück riskieren sie nichts mehr und kommen sicher als Gesamtsieger der Zweier-Team-Wertung ins Ziel. Selbst in der Einzelwertung liegen die beiden weit vorn: Augustyniak ist hier am Ende Sechster, Fritzsch Siebter.
Nachspiel
Eigentlich ist im Zielort Dharamshala ein Treffen mit dem Dalai Lama vorgesehen. Hier lebt der oberste Mönch des tibetischen Buddhismus im Exil. „Ich freue mich darauf, ihn zu sehen“, sagt Marvin Augustyniak. Dann die Enttäuschung. Der Dalai Lama kommt nicht. Die Audienz wird um zwei Tage verschoben. Doch dann werden Augustyniak, Fritzsch und die anderen Himalaya-Helden schon in einer anderen Welt sein – auf dem Weg nach Hause.