Ist das schon irre oder nur der ganz normale Radsport-Wahnsinn? Marco Klages und Christian Pajung von Bike-Sport Bad Salzdetfurth nehmen eine echte Tortur in Angriff. Die Bodenburger wollen am Pfingstsonntag so lange den Tosmarberg bei Söhre rauf und runter fahren, bis sie die 8848-Höhenmeter-Marke knacken. 50 Mal müssen sie dafür den Gipfel erklimmen, haben sie vorher ausgerechnet.
Das Ganze nennt sich Everesting – weil der mächtigste Berg der Welt, der Mount Everest, genau 8848 Meter hoch ist. Um Punkt 4.30 Uhr geht es los, vor Sonnenaufgang. So früh am Morgen ist es im Wald und am Tosmar-Gipfelkreuz ganz zauberhaft: Rehe kreuzen die Wege, und langsam beginnt das Vogelgezwitscher. Gefühlt ist das eine anderen Welt.
“Wir haben vorher vereinbart, dass jeder sein eigenes Tempo fährt”, sagt Christian Pajung. Marco Klages hat die deutlich höhere Trittfrequenz und setzt sich bereits nach ein paar hundert Metern bergauf ab.
Auf dem Tosmarberg angekommen, düsen sie runter nach Diekholzen, kurz vor dem Sportplatz drehen sie, um dann wieder den Berg hinaufzufahren und anschließend nach Söhre herunterzurollen. Die Strecke ist 9,3 Kilometer lang, und bei einer dieser doppelten Tosmar-Querungen werden 362 Höhenmeter absolviert.
Heißt: Ungefähr 25 Mal müssen die Bike-Sportler den Weg Söhre – Tosmarberg – Diekholzen – Tosmarberg – Söhre fahren. Das bedeutet 50 Berg-Querungen, um die 8848 zu knacken. 230 Kilometer liegen vor ihnen. Wenn sie durchhalten.
Ich hatte schnell einen Vorsprung. Immer wenn Christian und ich uns danach unterwegs begegneten, riefen wir uns motivierende Worte zu. In dieser Sekunde verstanden wir aber nie das Wort des anderen – motiviert hat es trotzdem.
Marco Klages
Übrigens hat fast zeitgleich einer der berühmtesten deutschen Radsportler ebenfalls eine Everesting-Challenge absolviert. Im Ötztal am Haiminger Berg. Der Tour-de-France-Vierte Emanuel Buchmann benötigte dafür 7:28 Stunden. “Die letzten 1000 Höhenmeter waren brutal”, so Buchmann nach der Aktion. Und das sagt einer, der das “Höhenmeter fressen” weiß Gott gewohnt ist.
Bereits während der dritten doppelten Tosmar-Querung brennen beim Bodenburger Marco Klages die Ober- und Unterschenkel. “Richtige Probleme mit den Beinen habe ich aber nicht”, sagt er. Derweil fährt Christian Pajung seine Runden sehr entspannt. Noch.
Es ist herrlich, den Sonnenaufgang im Wald mitzubekommen.
Christian Pajung
Von der fünften Runde an setzen bei Pajung allerdings ebenfalls Schmerzen im Rücken ein – und dann auch in den Handgelenken. Ab der achten Runde zwickt bei Klages plötzlich die Schulter: “Durch eine andere Lenker-Haltung verschwand das aber wieder. Nur der Rücken macht weiter etwas Ärger.”
Nach jeder Runde habe ich eine Kleinigkeit gegessen: Kartoffeln, Kuchen oder Kekse. In jeder Zweiten nahm ich ein Gel zu mir und schnappte mir eine neue Trinkflasche. Insgesamt verbrauchte ich 13 Liter Iso-Getränke, zwei Liter Cola und 14 Gels.
Marco Klages
Am späteren Vormittag kommen die ersten Unterstützer an die Strecke. Fabian Pfeiffer, ebenfalls von Bike-Sport Bad Salzdetfurth, fährt eine Weile an Marco Klages Seite und pusht ihn unterwegs – freilich mit dem gebotenen Corona-Abstand.
Unten am Restaurant Söhrer Forsthaus ist ein Versorgungstisch aufgebaut worden. Christian Pajungs Söhne Marvin und Levin, seine Frau sowie Schwiegersohn Timm und auch Klages‘ Gattin Wiebke und seine Tochter Lisan reichen Trinkflaschen und Essen – und sie alle sorgen für moralische Hilfe.
Nach 4004 Höhenmetern ist Christian Pajung platt. Er steigt aus. Immerhin elfmal hat der 38-Jährige die doppelte Tosmar-Querung gepackt. „Ich will es halt versuchen. Weiß nicht, ob ich durchhalte“, hatte der sechsfache Familienvater bereits morgens um 4.15 Uhr kurz vor dem Start gesagt. Im Laufe des Wettkampfes sind die Probleme im Rücken und den Handgelenken stärker geworden. Pajung ist trotzdem zufrieden: 4004 Höhenmeter sind schließlich eine echte Duftmarke.
Ich merkte eigentlich schon nach der fünften Berg-Querung, dass das heute schwierig wird.
Christian Pajung
Marco Klages kämpft weiter. Aufgeben will er auf keinen Fall: „Wenn ich mir etwas vornehme, bin ich ziemlich ehrgeizig. Das war bei mir schon als Kind so. Den Druck, den ich mir mache, brauche ich, um das hier durchzustehen.“ Er hält eine konstante Geschwindigkeit von 36 bis 37 Minuten pro Runde.
Weitere Vereinskollegen und andere Radsportler kommen zum Tosmarberg. Der Bad Salzdetfurther Jannik Briehl fährt eine Weile an Klages Seite, der Söhrer Danny Alfus, Dirk Steinkraus, Andreas Wehrmaker und der Hildesheimer Jan-Helge Lorenz ebenfalls.
Fünf Runden vor Schluss stellt Marco Klages das Essen ein – er trinkt nur noch, bekommt sonst nichts mehr herunter. Das soll sich rächen. Aber noch fühlt sich der 33-Jährige gut. Gerade knackt er die 7000-Höhenmeter-Marke.
Einen riesengroßen Dank an jeden Einzelnen, der uns unterstützt hat – egal, ob zu Fuß, ob unten auf dem Parkplatz, oder ob sie uns ein Stück mit dem Mountainbike begleitet haben.
Marco Klages
Auf der drittletzten Querung trifft Klages aber die Keule. Der Körper streikt, die Kraft weicht aus den Oberschenkeln, und er wird ziemlich fahl im Gesicht.
In so einem Moment gibt es die Option “Aufgeben” für mich nicht mehr. Meine Gedanken waren nur: Wie schaffe ich jetzt die restlichen Höhenmeter?
Marco Klages
Gut, dass Danny Alfus noch einmal mit seinem Mountainbike vorbeikommt. Er begleitet Klages bei den abschließenden drei Querungen, lenkt ihn unterwegs ab, erzählt alles mögliche, macht Sprüche. Und endlich! Nach 17,5 Stunden hat Marco Klages die 8848 Höhenmeter geschafft – oder anders gesagt: von Söhre aus den Mount Everest erklommen.
Es ist stockduster, als der 33-Jährige gegen 22 Uhr ins Ziel auf dem Parkplatz des Restaurants Söhrer Forsthaus rollt. Er streckt lang die Zunge heraus, atmet schwer. Seine Frau Wiebke Hoppe-Klages und Tochter Lisan (7) nehmen den Gatten und Vater in den Arm. Auch Christian Pajung ist im Zielbereich. Er hat die ganze Zeit auf seinen Kumpel gewartet.