“Dem Straßenverlauf LAAANGE folgen!” Die samtweiche Navi-Stimme unseres geliehenen VW-Skoda gibt schon während der Anreise zur Tour de France das Leitmotiv der nächsten Tage vor.
“Dem Straßenverlauf LAAANGE folgen!” Dieser Spruch hämmert mir auch immer wieder durchs Hirn, als ich tags darauf mit dem Mountainbike den Col de la Croix de Fair hochstrampele. Auf 2067 Meter Höhe quäle ich mich. Falk und Simone kommen eine ganze Weile vor mir am Pass an.
48 Stunden später werden wir noch einmal den Croix de Fair überqueren – da läuft es auch bei mir besser. Es dauert eine Weile, bis ich den Tritt gefunden habe. Die französischen Alpen sind eben etwas anderes, als der Tosmarberg oder der Brocken.
Für die richtigen Tour-Profis liegt an diesem Donnerstag die 18. Etappe an – von Gap nach Saint-Jean-de-Maurienne über 186,5 Kilometer. Irgendwo in den Bergen wollen wir uns einen Platz suchen, von dem wir dann die Helden anfeuern und beobachten können.
Für uns sind es nur rund 50 Kilometer, aber mehr als 1000 Höhenmeter über den Pass. Unterwegs werden wir immer wieder von den Zuschauern angefeuert, die sich längst an der Strecke mit ihren Wohnmobilen platziert haben. “Bon Courage”, rufen die Franzosen auch uns Hobbyfahrern zu.
Mehrmals wird der Tour-Tross während der Alpenetappen den Croix de Fair passieren – es ist eine gute Stelle, um zu campieren. Wir allerdings haben uns in eine Ferienwohnung eingemietet. Mitten drin im Tourgeschehen.
“Bad Salzdetfurth go!” Hä, wer brüllt denn da? Während ich die Höhenmeter 1850 passiere, entdecke ich ein Wohnmobil mit dem heimeligen Kennzeichen “HI”. Eine Familie aus Alfeld sitzt vor ihrem Camper in Gartenstühlen. Die Mutter und ihre beiden Söhne lassen sich von der Sonne braten, der Grill brät die Würstchen, und Papa sorgt dafür, dass nichts anbrennt. “Drei Etappen führen hier längs, wir rühren uns nicht vom Fleck”, sagt er und schaut zufrieden. Es sollen nicht die einzigen Hildesheimer sein, die wir treffen werden.
Simone, Falk und ich sind das erste Mal bei der Tour – und sofort vom Flair des Spektakels gefangen. Menschenmassen tummeln sich im sonst eher einsamen Hochgebirge, dazu die viele Hobbyradfahrer. Da strampeln nicht Hunderte vor jeder Etappe die Berge hoch – es sind Tausende.
Endlich habe ich den Croix de Fair überwunden. Es ist ein erhabenes Gefühl, oben anzukommen. Danach rollen Falk, Simone und ich bergab Richtung Col du Glandon – auch so ein legendärer Pass der Tour. In einer Kehre machen wir halt und suchen uns ein schönes Plätzchen am Hang. Von hier aus wollen wir das Fahrerfeld später anfeuern. Was für ein Bild! Im Hintergrund die mächtigen Berge. Karg und erhaben sehen sie aus, oberhalb der Baumgrenze.
Plötzlich vier grün-weiß-rote Trikots. Gibt’s doch nicht! Da trifft man hier oben doch glatt Rennradfahrer des RSC Hildesheim – darunter Markus Krebsbach und Jürgen Schankart. “Wir machen eine Rundfahrt durch die Alpen, haben sogar zwei Betreuer mit, die sich um alles kümmern”, sagt Krebsbach. Natürlich lassen sich die Vier auch das eine oder andere Rennen der Tour de France nicht entgehen.
Wie ein Wurm schlängeln sich die Zuschauer und Wohnmobile die engen Passstraßen hinauf. Viele Fans stehen mit ihren Caravans schon seit Tagen an der Strecke. Jean-Claude und Francoise – zwei Einheimische um die 70 – sitzen ebenfalls eine gefühlte Ewigkeit in ihren Gartenstühlen, starren stur geradeaus und warten auf den Tour-Tross. Sie sprechen kein Wort, vielleicht sind sie stumm. Der eine trägt einen hellen Hut, der andere einen schwarzen. Beide sind nicht mehr gut zu Fuß, haben links neben sich eine Krücke liegen. Ihre Mimik: teilnahmslos, bis mürrisch. Immer, wenn die Tour über den Glondon führt, hocken sie an dieser Stelle.
Auch die pompöse Marketing-Karawane, die sich gut eine Stunde vor den Profi-Fahrern den Pass hinauf schlängelt, interessiert Jean-Claude und Francoise nicht die Bohne. Das Ganze ist eine Mischung aus Kölner Karnevalsumzug und Christopher Street Day: Der “Zoch kütt”, und am Streckenrand flippen die Leute aus, die als Batman, Superman, Leder-Tunte oder als Obelix verkleidet sind.
Angeführt wird der Marketing-Konvoi von einem LKW, auf dessen Ladefläche ein riesengroßer Pappmaschee-Rennradfahrer im gelben Trikot montiert ist. Es folgen die Fahrzeuge der Tour-Hauptsponsoren – Haribo, Skoda, Vittel und, und, und. Gut 20 Minuten lang reiht sich Auto an Auto. Auf und in den Wagen hocken lauter Animateure mit professionell guter Laune. Sie heizen dem Publikum ein und versorgen es mit Mützen, Trikots, Süßigkeiten, Kugelschreibern – kurzum: mit allem, was die Welt nicht braucht. Jeder zweite Zuschauer wird am Ende der Alpenetappen mit einem grünen Skoda-Sonnenhut durch die Gegend rennen, Falk und ich eingeschlossen. Simone weigert sich standhaft.
Jean-Claude und Francoise brauchen diesen Kram nicht. Aber langsam kommt Leben in die zwei betagten Herren. Francoise drückt das Rückrad durch. Er macht sich gerade. Und Jean-Claude greift links neben sich zur Krücke. Er braucht bald eine Ewigkeit, um aufzustehen. Ganz langsam hebt er sich, wie von einer unsichtbaren Hydraulik in die Aufrechte befördert. Endlich steht er. Die ersten Tour-de-France-Fahrer kommen!
“Allez, Allez!” Ein Jubelsturm bricht los. Die Führenden hasten den Berg hinauf. Gut vier Minuten später kommt der Mann in Gelb um die Kurve. Chris Froome wird flankiert von seinem Teamkollegen Richie Porte aus der Sky-Mannschaft. Froome hat Quintana, Valverde und Nibali – seine ärgsten Konkurrenten in der Gesamtwertung – in Blickweite.
Es gibt Buh-Rufe, als sich Froome in die Kurve legt. Aber fiesere Attacken bleiben dem Briten auf diese 18. Etappe erspart. An anderen Strecken war er bespuckt oder sogar mit Urin bespritzt worden. Er ist eben kein Publikumsliebling, trotzdem kann ich diese Hass-Tiraden nicht leiden. Klar, schwingt immer die Doping-Annahme mit. Letztlich gilt aber die Unschuldsvermutung. Und wenn Froome des Dopings bezichtigt wird, müssten alle anderen ebenfalls unter Verdacht stehen.
Der Tross ist durch. Es war ein kurzes Vergnügen für die Zuschauer. Wir fahren zurück in unsere Ferienwohnung, noch einmal über den Croix de Fair.
Abends kocht Falk Nudeln – definitiv zu viel. “Es wird aufgegessen, man muss sich auch mal quälen können”, meint er. “Habe mich heute schon genug gequält”, denke ich, sage aber nichts und kaue brav weiter.
Am nächsten Morgen ist Volksfeststimmung in Staint-Jean-de-Maurienne. Aus dem Alpen-Städtchen wird die 19. Etappe der Tour gestartet. Sie führt über 138 Kilometer nach La Toussuiere.
Stundenlang plärren auf dem Marktplatz Animateure, wieder fährt erst der Marketing-Treck durch die kleinen Gassen und wieder werden Give-Aways geschmissen, was das Zeug hält. Endlich kommen die Fahrer. Alle müssen auf die Bühne, sich in die Rennliste einschreiben. Dann der Start. Rund 160 Radprofis rasen los, mindestens doppelt so viele Autos und Motorräder begleiten den Tross auf der Strecke – Betreuer, Mechaniker, VIPs und Journalisten. Ein Wahnsinns-Spektakel, das auch uns fasziniert: im Bann der Tour de France eben.